1. August 2014: Der Besuch bei der alten Dame

Zugegeben, ich finde es auch ein bisschen albern, die Frage nach meiner Zukunft ausgerechnet von einer Kartenlegerin beantworten zu lassen. Zwar ist sie für solche Prophezeiungen da, doch passt es wirklich zu einer ehemaligen Vorstandsreferentin, sich von jemandem mit dieser Profession beraten zu lassen? Schließlich war es bis vor ein paar Tagen noch mein Job, zuverlässige Informationen für die Unternehmensleitung zusammenzustellen und genauestens darauf zu achten, dass jede Vorlage, jede Präsentation, jeder Projektbericht bis ins Detail nachprüfbare Daten enthält und logisch unbedingt schlüssig aufgebaut ist. Immerhin ging es um die Zukunft des Unternehmens! Und nun suche ausgerechnet ich eine Kartenlegerin auf, um zu erfragen, was ich mit meiner Zukunft anfangen soll?

 

Fakt ist jedoch, dass ich aktuell keine Ahnung habe, wie mein Leben weitergehen kann, und da ist mir jeder Strohhalm recht. Hinzu kommt, dass mir meine Freundin Biggi diese Dame dringend empfohlen hat, weil sie von ihren hellsichtigen Qualitäten überzeugt ist. Und außerdem hat der Gedanken zurzeit etwas Beruhigendes für mich, dass wenigstens ein paar bunte Pappstücke wissen, wie es mit mir weitergeht, denn ich weiß es – wie gesagt – gerade nicht.

 

Erst ein paar Tage ist es her, dass mich ein gesundheitlicher Zusammenbruch von jetzt auf gleich aus einem Berufsalltag riss, der längst schon nicht mehr zu mir passte. Schon die erste Nacht im Krankenhaus ließ in mir die Überzeugung reifen, dass ich etwas Entscheidendes in meinem Leben ändern muss. Das weiß ich zwar schon lange, aber bislang hat mich die komplette Perspektivlosigkeit bezüglich meiner beruflichen Zukunft davon abgehalten, das Weite zu suchen. Doch in diesen Nächten im Krankenhaus war es plötzlich nicht mehr so wichtig, dass ich keinen Plan B zum Broterwerb in der Tasche hatte. Irgendwie würde es schon weitergehen, dachte ich; ein Gedanke, den ich – bodenständig und sicherheitsorientiert, wie man es Menschen mit dem Sternzeichen Stier nun mal nachsagt – früher nie zu denken gewagt hätte. Auf der Krankenstation allerdings erschien er mir alternativlos. Es musste sein!

 

Also kündigte ich meinen Job, kaum, dass ich das Hospital hinter mir gelassen hatte. Und wie so oft im Leben, wenn man ganz genau weiß, dass man das Richtige tut, auch wenn ich kein bisschen wusste, warum das richtig sein soll, bekam ich tatkräftige Unterstützung von meiner älteren Schwester, ihrer Freundin Sabine, meiner Ex-Chefin und einer Ex-Kollegin, die ebenfalls kurz vor mir gegangen war. Von meinem Chef bekam ich Verständnis und er ließ mich ziehen. Der Ausstieg war geschafft.

 

Und jetzt?

 

Jetzt parke ich meinen Wagen am Straßenrand, ein paar Schritte von einem gelb verklinkerten Haus entfernt, vor dem schon jemand auf mich wartet. Im Rückspiegel sehe ich eine kleine, zierliche, schon recht betagte Frau auf der Straße vor dem Haus stehen und zu mir hinüberblicken. Die Frau trägt ihre blonden Locken hoch aufgetürmt auf dem Kopf, einen blau-weiß gestreiften Pullover und eine flotte weiße Hose. Ihre Hände hat sie abwartend in die Seiten gestemmt. Als ich aus dem Auto steige und mich ihr nähere, erkenne ich auch ihre langen, sorgfältig lackierten Fingernägel, die sich blutrot auf dem hellen Oberteil abheben.

 

Ich bin beeindruckt und finde, dass sie die erstaunlichste Person ist, die ich je gesehen habe! Die alte Dame erinnert mich an meine Großmutter, und wenn es sich bei ihr tatsächlich um die Kartenlegerin handelt, die ich aufsuchen will, dann ist sie nach Angaben meiner Freundin Biggi auch fast so alt, wie meine Oma väterlicherseits jetzt wäre: 92 Jahre. Im Gegensatz zu meiner Oma jedoch wirkt diese Frau freundlich und strahlt viel Herzlichkeit und Wärme aus. Sie lächelt mich an, ich lächele zurück und fühle mich bei ihr bestens aufgehoben. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass sie mich bei näherem Hinsehen sogar noch mehr als zuvor an meine Großmutter erinnert!

 

Die bemerkenswerte Dame hält sich nicht lange mit Plaudereien zu meiner Begrüßung auf, sondern dreht sich alsbald um und läuft vor mir her in ihr – ja, wie soll ich den Raum nennen? Ist es ihr Arbeitszimmer? Oder das Wohnzimmer? Ich weiß es nicht. Doch für das, was ich nun betrete, passt die Bezeichnung „Salon“ sowieso viel besser. Der ist fast ebenso erstaunlich wie diese Frau! Hier scheint spätestens um 1900 die Zeit stehen geblieben zu sein: Der Raum ist vollgestellt mit verschnörkelten Möbeln aus dunklem Holz und vielen dick gepolsterten Sesseln und Stühlen. Die Wände sind verkleidet mit dunkelroter Stofftapete. Ein großer Spiegel mit vergoldetem Rahmen über einer mit allerlei Andenken vollgestellten Kommode komplettiert das beeindruckende Ambiente. Auch das hatte Biggi mir angekündigt: Allein die Besichtigung der Räumlichkeiten aus einer längst vergangenen Zeit ist das Geld wert, was man fürs Kartenlegen bezahlt!

 

Die Dame mit der hochgetürmten Frisur lässt sich in einem gut gepolsterten Armlehnenstuhl an einem runden Tisch nieder, zündet sich eine Zigarette an und fängt an, die Karten zu mischen. Dann erzählt sie aus meinem Leben: zuerst aus meiner Vergangenheit und schließlich auch aus meiner Zukunft. Ich lausche erst kritisch und dann immer faszinierter. Schließlich bin ich tief beeindruckt von der Weisheit dieser Frau und ich frage mich, warum ich sie nicht schon viel früher kennengelernt habe. Seit fast vierzig Jahren wohnt meine Familie im Nachbarort und sie, die alte Dame, wird noch viel länger hier wohnen – jedenfalls vermute ich das. Doch ich habe nie von ihr gehört. Es sollte wohl einfach erst jetzt soweit sein, sie kennenzulernen.

 

Mit wohlmeinendem Lächeln, ab und zu einem mahnend erhobenen, leuchtend rot lackierten Zeigefinger und einer oft wunderbar antiquiert anmutenden Ausdrucksweise erläutert mir die Frau, was die Karten raten: Etwas Künstlerisches solle ich zukünftig machen, es sei mir in die Wiege gelegt und ich würde viel Erfolg haben. Doch ich müsse an mich glauben und dürfe auch bei Rückschlägen nicht aufgeben.

 

Das alles glaube ich nur zu gerne, kommt es doch meinen diffusen Vorstellungen von meiner Zukunft sehr entgegen! Doch was genau es ist, was ich tun soll, was zu mir passt und wo meine Bestimmung liegt, das spucken die Karten nicht aus. Deshalb rät sie mir einfach wiederzukommen, wenn eine berufliche Entscheidung ansteht. Sie würde mich dann beraten.

 

Das verspreche ich nur zu gerne! Diese unglaubliche alte Dame, die ich so sofort als meine Großmutter adoptieren würde, werde ich auf jeden Fall wieder besuchen, und sei es auch nur, um mich von ihrer eigenwilligen, altmodischen und doch so herzerfrischenden Art faszinieren zu lassen! Was für eine tolle Frau, die ich an diesem Vormittag kennen lernen durfte!

 

Als ich wieder auf der Straße vor dem Haus stehe habe ich das Gefühl, als sei ich recht unsanft aus einem behüteten Ort aus fernen Zeiten in die unsichere Gegenwart geschleudert worden. Doch aus irgendeinem Grund trage ich nun die Gewissheit in mir, dass sich meine Zukunft schon sortieren wird. Irgendwie eben. Wenn diese Frau das sagt, dann muss es so sein!

 

 

Meine lebenskluge Freundin Biggi und ich


So geht es weiter! 3. August 2014: Der Feind in mir