6. Dezember 2015: Pilgern hilft

 

Sie kommt von Zeit zu Zeit in schöner Regelmäßigkeit: Die Krise.

 

Kann ich es mir verdenken? Schließlich hängt meine Zukunft in der Luft und ich lebe zurzeit nur von Hoffnungswerten, die – das liegt in der Natur der Sache – keine Garantie für irgendetwas bieten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ich diesen Weg selbst gewählt habe, denn es fühlt sich eher so an, als hätte der Weg mich gewählt. Irgendwie konnte ich nicht anders, als ihn zu gehen.

 

Weil also mein Leben einmal wieder eine sehr verwirrende Angelegenheit zu sein scheint und überhaupt gar nichts vorangeht, sehe ich nur einen Ausweg: Eine Auszeit, um Abstand zu gewinnen und mich zu sortieren. Ich beschließe durch die Heide zu wandern, die ich – im Gegensatz zur landläufigen Meinung – dann am schönsten finde, wenn sie nicht blüht. Dann kann man die karge Schönheit der Landschaft nämlich völlig ungestört genießen, vorausgesetzt, dass einen Baumfällarbeiten und Treibjagden nicht stören.

 

Für ein paar kostbare Tage scheint die Welt still zu stehen. Mir kommt es so vor, als dürfte ich endlich durchatmen und müsste ausnahmsweise einmal nichts von mir erwarten – jedenfalls nichts anderes als zu essen, zu schlafen und bei meinen langen Wanderungen rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zurückzukehren. Bei der Wanderkarte, die ich bei mir führe und die diesen Namen nicht verdient, ist das keine Selbstverständlichkeit.

 

Als ich am zweiten Tag am Ende der Welt unterwegs bin, entdecke ich an einem Pfahl eine gelbe Muschel auf dunkelblauem Grund. Ich ahne, was dieses Zeichen bedeutet, verifiziere es dann aber doch sicherheitshalber im Internet. Tatsächlich: Ich laufe auf dem Jakobsweg entlang! Ist das nicht dieser sagenumwobene Weg zur Erkenntnis, der irgendwo in Spanien endet? Was macht der hier in der norddeutschen Heide? Kann ich etwa auch weit entfernt von Santiago de Compostela „pilgern“ und werde erleuchtet? Das wäre ja super!

 

Ich folge eine Zeit lang der Muschel und denke, dass das nicht schaden kann, weil ein ausgewiesener Pilgerweg bestimmt hilfreich ist, wenn man nach dem Sinn seines Lebens oder zumindest dem einer irritierenden Lebensphase sucht. Doch schon bald muss ich feststellen, dass – zumindest in diesem Teil der Welt – die Wege ohne Muschel, also sozusagen die gewöhnlichen, nicht zur Erleuchtung bestimmten Pfade, irgendwie interessanter aussehen. Deshalb folge ich schon bald wieder meinem eigenen Kompass. Doch auch auf diesen Routen durch Wald, Wiesen, Moore und natürlich die Heidelandschaften finde ich nach und nach, was ich suche: Ruhe und Klarheit. Ich weiß plötzlich ganz genau, wie ich mir mein Leben vorstelle. Das wusste ich noch nicht so oft – jedenfalls nicht so eindeutig. Normalerweise, wenn ich über solche Fragen nachdachte, verhinderte eine hysterisch keifende Stimme in meinem Kopf jeden vernünftigen Gedanken, weil sie sofort mit mir darüber zu streiten anfing, ob ich denn wirklich wüsste, was ich täte und wie ich schon wieder auf so eine Schnapsidee käme ... Doch diese störende Stimme ist jetzt verstummt und so darf ich eben wissen, was ich will! Nur, ob ich das auch kriege, das weiß ich vermutlich erst … irgendwann.

 




Ein Symbol der Hoffnung: Inmitten dezemberlichen Grau-in-Graus hat sich auf einem abgestorbenen Baumstamm eine Miniaturoase entwickelt.